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Gewaltvorwürfe in Osttiroler Einrichtung

Gewaltvorwürfe in Osttiroler Einrichtung

Gewaltvorwürfe in Osttiroler Einrichtung

Die Gewalt- und Missbrauchsvorwürfe, mit denen sich SOS Kinderdorf Österreich seit Wochen konfrontiert sieht, weiten sich erneut aus. Betroffene, die in den 1990er-Jahren im Kinderdorf in Nußdorf-Debant (Bezirk Lienz) aufgewachsen sind, berichten gegenüber der APA von Gewalt durch Erwachsene.

Mit dem Standort Nußdorf-Debant in Osttirol ist ein zweites Tiroler SOS-Kinderdorf von Misshandlungsvorwürfen betroffen. Zwei Frauen, die in den 1990er-Jahren dort ihre Kindheit verbrachten, haben sich nach jüngsten Medienberichten über Übergriffe in anderen SOS-Kinderdörfern an die APA gewandt. Sie berichten über erlebte und von ihnen wahrgenommene strukturelle, auch sexualisierte Gewalt.

"Es würde mich wundern, wenn es in einem SOS-Kinderdorf keine Gewalt oder keinen Missbrauch gegeben hätte. Das geschlossene, patriarchale System in der Vergangenheit war der Nährboden dafür", berichtete eine Frau, die ab 1994 zehn Jahre im SOS-Kinderdorf Nußdorf-Debant aufwuchs.

Ihren Schilderungen zufolge kam es zu Gewalt durch Erwachsene – auch durch den damaligen Dorfleiter, der in der Region hoch angesehen war und bis zu seiner Pensionierung mehr als 20 Jahre die pädagogische und administrative Verantwortung für den Standort inne hatte.

"Ich war häufig betroffen. Ich galt als rebellisch, weil ich etwa meine Rechte einforderte. Immer wieder kassierte ich vom Dorfleiter eine Watsche", erinnert sich die Frau. Diese Übergriffe hätten oft vor anderen Kindern stattgefunden, "um ein Exempel zu statuieren".

Die zweite, jüngere Frau, die auch in den 1990-er Jahren im Osttiroler SOS-Kinderdorf aufwuchs, bestätigt das. Dazu sei es gekommen, "damit jedes Kind weiß, was ihm blüht, wenn es nicht brav ist, Fehler macht oder sich nicht an die Regeln hält." Der Dorfleiter hätte Kinder an den Ohren oder Haaren gezogen, "wenn sie sich nicht an seine Regeln gehalten haben."

Auch einzelne Kinderdorf-Mütter hätten Gewalt ausgeübt, vertrauten die beiden Betroffenen der APA übereinstimmend an. "Ich selbst wurde von meiner nie geschlagen, jedoch andere Kinder in unserem Haus. Ich glaube gespürt zu haben, dass es an ihrer Überforderung lag, dass sie Kinder geschlagen hat", so die Jüngere.

Ihre Kinderdorf-Mutter sei "Teil eines Systems" gewesen, "das von patriarchalen Strukturen geprägt war". Der Dorfleiter habe die Regeln bestimmt. Dieses Machtgefälle habe viele zum Schweigen gebracht – "auch Erwachsene, die eigentlich helfen wollten". Die ältere Frau erinnert sich an "Essensentzug und Ohrfeigen". Im Winter sei ihr Kinderzimmer mitunter strafweise nicht geheizt worden.

Das SOS-Kinderdorf Nußdorf-Debant – nach dem Gründungsstandort Imst im Tiroler Oberinntal das zweitälteste Kinderdorf in Österreich – existiert fast auf den Tag genau seit 70 Jahren. Über Jahrzehnte hinweg lebten dort sieben "Familien", die jeweils von einer so genannten Kinderdorf-Mutter geführt wurden, die für fünf Kinder zuständig war. Jedenfalls bis in die 1990er-Jahre hinein waren die Kinderdorf-Mütter nicht adäquat pädagogisch ausgebildet.

Die "Geschwister" in den Wohnungen seien bunt zusammengewürfelt gewesen. Ältere, dominantere Buben hätten "psychische, physische und sexualisierte Gewalt" zulasten der Jüngeren ausgeübt, offenbarten die beiden Frauen der APA. "Zwei sogenannte Hausbrüder haben mich über Jahre hinweg sexuell belästigt", erhebt die Jüngere schwere Vorwürfe. Sie habe sich schließlich ihrer Kinderdorf-Mutter anvertraut. Konsequenzen für die Täter hätte es keine gegeben.

"Bei sexueller Gewalt unter Kindern wurde weggeschaut", pflichtete die ältere Frau den Schilderungen der Jüngeren bei. Die Opfer hätten keinerlei Unterstützung erfahren und mit den vermeintlichen Tätern unter einem Dach leben müssen. In einer ersten Reaktion zeigte man sich bei SOS Kinderdorf Österreich bestürzt.

"Das Leid, das die jungen Menschen in der Betreuung von SOS-Kinderdorf erfahren haben, macht uns tief betroffen, und wir wollen uns aufrichtig dafür entschuldigen", hieß es Montagmittag auf APA-Anfrage. "Wir verstehen, dass sich manche Betroffene auch an Medien wenden, um ihre Erfahrungen zu teilen. Es zeigt den nachvollziehbaren Wunsch, Missstände öffentlich und Geschehenes sichtbar zu machen."

Zugleich appellierte die Einrichtung an Betroffene, auch die bestehenden Meldewege bei SOS-Kinderdorf zu nutzen, "damit wir jeden einzelnen Fall möglichst sorgfältig dokumentieren, prüfen und aufarbeiten können". Man rechne "mit weiteren Fällen aus der Vergangenheit – und das ist wichtig und gewollt." Alles müsse auf den Tisch, "jeder einzelne Fall soll aufgeklärt werden." Nur so könne man "einen echten Neuanfang" gewährleisten.

Bei einer der seinerzeit am Standort Nußdorf-Debant untergebrachten Betroffenen dürfte auch das zuständige Jugendamt der gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollfunktion möglicherweise nicht im nötigen Ausmaß nachgekommen sein. Wie die jüngere Frau später aus ihrer Akte erfuhr, habe das Jugendamt in Innsbruck erst nach sechs Jahren erstmalig vom SOS-Kinderdorf einen Bericht über die Betroffene angefordert.

Vorerst offen ist, ob und allenfalls seit wann der Tiroler Kinder- und Jugendhilfe (KJH) und der Tiroler Kinder- und Jugendanwaltschaft (KIJA) derartige Vorwürfe am Standort Nußdorf-Debant bekannt waren. Diesbezügliche schriftliche Anfragen der APA blieben vorerst unbeantwortet.

"Ich habe mich oft gefragt, warum nie jemand gekommen ist, um zu prüfen, wie es mir tatsächlich geht und wie die Zustände bei uns im Kinderdorf sind", meint die Betroffene heute. Die psychischen Folgen des Erlebten seien massiv gewesen. Mit ihren schulischen Leistungen sei es bergab gegangen.

Der Dorfleiter habe sie gegen ihren Willen zwei Mal von höheren Schulen abgemeldet. Ihr Wunsch, die Matura zu machen, sei ihr verwehrt worden: "Das hat mein Selbstvertrauen zerstört." Ihren Selbstwert habe sie "in langer Therapie mühsam wieder aufbauen müssen".

Die Betroffene wandte sich schließlich an eine SOS-Kinderdorf-Ombudsstelle: "Dieser Schritt war unglaublich schwer. Viele schaffen das nicht. Aus Angst, aus Scham oder weil sie gar nicht wissen, dass ihnen ein Recht auf Aufarbeitung zusteht." Heute absolviert die Frau ein Studium, finanziell unterstützt von SOS-Kinderdorf.

SOS-Kinderdorf Österreich bot der Frau auch eine Entschädigung an, nachdem sich die unabhängige Opferschutzkommission mit ihrem Vorbringen befasst hatte. Das Schreiben wurde von der aktuellen Geschäftsführung unterzeichnet. Darin wird ausdrücklich betont, dass das von der Betroffenen erlittene Unrecht anerkannt wird.

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