Vor einem Jahr hat Mario Draghi, einst Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), einen viel beachteten Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit vorgestellt. Darin beschrieb er, welche Reformen die EU dringend angehen sollte, um international zu bestehen. Geschehen ist bisher aber wenig – im Gegenteil: Die Probleme hätten sich weiter verschärft, kritisierte Draghi am Dienstag.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen empfing den früheren EZB-Chef im Brüsseler Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der Kommission, zur Tagung „Ein Jahr nach dem Draghi-Report“. Damals hatte der Italiener in seinem Strategiepapier zur Wettbewerbsfähigkeit zu enormen Investitionen in Wirtschaft, Verteidigung und Klimaschutz aufgerufen.
Draghi formulierte konkrete Handlungsanweisungen, eine Richtschnur für die Zukunft der europäischen Wirtschaft. Er bezifferte damals die nötigen Investitionen auf zusätzliche 4,4 bis 4,7 Prozent des EU-BIPs von 2023, rund 800 Milliarden Euro im Jahr. Um das zu stemmen, empfahl Draghi eine gemeinsame Verschuldung über EU-Anleihen – das wurde allerdings von einigen Staaten prompt abgelehnt.
Der Bericht zog damals aber vor allem Lob nach sich und das Bekenntnis, alsbald Reformen zu starten – zumindest in der Theorie. Denn inzwischen wurde nicht viel abgearbeitet, wie Draghi am Dienstag kritisierte. „Ein Weitermachen wie bisher bedeutet, sich damit abzufinden, zurückzufallen“ hinter die USA und China, so Draghi.
Während der vergangenen zwölf Monate hätten sich die Probleme für die europäische Wirtschaft auch noch weiter verschärft, sagte er. Die EU könne etwa auf die Zölle von US-Präsident Donald Trump kaum reagieren, weil sie zu abhängig von den Handelspartnern sei.
„Die Abhängigkeit von den USA in Sachen Verteidigung wird als einer der Gründe angeführt, warum wir eine Handelsvereinbarung zu weitgehend amerikanischen Bedingungen akzeptieren mussten“, sagte Draghi. Im Falle Chinas hindere die europäische Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen wie Lithium die EU daran, Pekings Unterstützung für Russland oder illegalen Staatshilfen etwas entgegenzusetzen.
Draghi forderte die EU auf, „Ergebnisse innerhalb von Monaten zu liefern, nicht Jahren“. Die Unternehmen seien „enttäuscht darüber, wie langsam die EU handelt. Sie sehen, dass wir nicht in der Lage sind, die Reformgeschwindigkeit zu erreichen, die wir anderswo sehen.“
„Unser Wachstumsmodell verliert an Bedeutung, die Schwachstellen nehmen zu, und es gibt keinen klaren Weg, um die erforderlichen Investitionen zu finanzieren“, sagte Draghi. Die Energiepreise seien weiterhin zu hoch, zu wenige Unternehmen arbeiteten mit künstlicher Intelligenz (KI) und es gebe Nachholbedarf beim Aufbau der Mikrochipproduktion. Zudem ging Draghi auf Probleme in der Automobilindustrie ein. Der Absatz von Elektroautos stocke, Modelle seien zu teuer, die CO2-Emissionen im Verkehr sinken kaum.
Nach Veröffentlichung des Reports brachte die EU-Kommission eine Reihe von Vereinfachungsvorschlägen und anderen Maßnahmen auf den Weg. Auch wurde das europäische Lieferkettengesetz um ein Jahr nach hinten verschoben, weitere Zugeständnisse an Unternehmen steckten aber im Streit zwischen den Fraktionen im Europaparlament fest. Zudem wurde im Jänner ein „Wettbewerbskompass“ vorgestellt, der sich an Draghis Empfehlungen orientiert.
Deutlich optimistischer blickte denn auch von der Leyen am Dienstag auf ihre Wirtschaftspolitik und die ökonomische Lage in der EU. Es gebe Milliarden zur Wirtschaftsförderung, es gebe mehr und mehr E-Autos auf Europas Straßen und man arbeite an neuen Handelsbeziehungen weltweit. Abhängigkeiten würden derzeit besonders stark zurückgedrängt durch die hohen Investitionen in Europas Verteidigung.
Sie räumte aber auch ein, dass eine größere Unabhängigkeit Europas von China und den USA noch Zeit brauchen werde. Von der Leyen verwies in dem Zusammenhang auf das noch nicht ratifizierte Abkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten und weitere Freihandelsvereinbarungen, Rohstoffabkommen mit Ländern wie Indonesien und Projekte für die Förderung und das Recycling von Lithium für Autobatterien innerhalb der EU, die gerade erst anlaufen. „Ich wünschte, ich könnte in allen Bereichen unserer Wettbewerbsfähigkeitsagenda ein ähnliches Gefühl der Dringlichkeit erkennen“, so von der Leyen.