ORF.at

Flüchtlingskrise 2015: Zwischen Hilfsbereitschaft und Politchaos

Flüchtlingskrise 2015: Zwischen Hilfsbereitschaft und Politchaos

Es waren nicht zuletzt Bilder der Hilfsbereitschaft und der Erleichterung bei den geflüchteten Menschen, die den Anfang der großen Flüchtlingsbewegung hierzulande von Freitag 4. bis Sonntag 6. September 2015 prägten. Die Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft hielt vielfach an – wurde aber binnen weniger Wochen von der innen- und außenpolitischen Krise rund um die Fluchtbewegung überlagert.

Die Flüchtlingskrise, die mit dem mehr oder weniger forcierten Hinauswurf der Geflüchteten aus Ungarn in Österreich einen ihrer Höhepunkte erreichte, hatte sich seit Monaten abgezeichnet. Im Sommer stiegen die Ankunftszahlen in Griechenland, Mazedonien und Serbien nochmals deutlich. Bereits im Frühjahr war das Aufnahmelager Traiskirchen überbelegt, Zelte für die Flüchtlinge etwa in Traiskirchen und Thalham mussten aufgestellt werden.

Anfang September spitzte sich die Lage dramatisch zu. Weltweite Erschütterung löste der Tod von Aylan Kurdi auf der Flucht über das Mittelmeer nach Griechenland aus. Der Leichnam des zweijährigen syrischen Buben wurde am 2. September an der türkischen Mittelmeer-Küste angeschwemmt.

Zugleich begann Ungarns Regierungschef Viktor Orban, in sein Land kommende Geflüchtete in großer Zahl an die österreichische Grenze zu transportieren. Von zentraler Bedeutung für die weiteren Entwicklungen in Österreich waren die Ereignisse rund um das Wochenende von 4. bis 6. September 2015.

Zunächst stoppte Ungarn – dorthin waren zusehends mehr Menschen über die grüne Grenze mit Serbien gekommen – Flüchtlingszüge auf dem Weg zur österreichischen Grenze. Daraufhin machten sich Tausende Flüchtlinge von Budapest zu Fuß auf in Richtung österreichischer Grenze. Und Ungarn kündigte daraufhin am 4. September abends an, zusätzlich Flüchtlinge mit Bussen an die Grenze zu bringen. Was dann mit ihnen passiere, liege an Österreich, so die ungarische Regierung, die ohne Absprache mit seinen europäischen Partnerländern agierte.

Es kam zu hektischen Beratungen und Telefonaten – insbesondere zwischen Wien und Berlin. In der Nacht auf Samstag, 5. September, gaben Kanzler Werner Faymann (SPÖ) und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bekannt, dass „aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze“ die beiden Länder der „Weiterreise der Flüchtlinge in ihre Länder“ zustimmen. Die Menschen, so die Einschätzung, wären nur mit Gewalt zu stoppen, und das sollte jedenfalls verhindert werden. Die Erklärung wurde laut der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ vom damaligen Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) in Abstimmung mit seinen deutschen und ungarischen Kollegen verfasst.

Allein an diesem Wochenende kamen 15.000 Menschen so nach Österreich, wobei fast alle gleich nach Deutschland weiterreisten. Nur 90 stellten damals einen Asylantrag in Österreich. Eigentlich war das nur als einmalige Aktion gedacht, doch bis Jahresende kamen etwa 90.000 Flüchtlinge nach Österreich, eine Million reiste weiter nach Deutschland.

Eine Welle der Hilfsbereitschaft unter dem Motto „Refugees welcome“ erfasste das Land. Hilfsorganisationen und Freiwillige versorgten die Menschen auf den Bahnhöfen mit Lebensmitteln, Hygieneprodukten und Kleidung, die ÖBB richteten Notunterkünfte für jene ein, die nicht unmittelbar nach Deutschland weiterreisen konnten.

Relativ nüchtern schätzten die Politologen Thomas Hofer und Peter Filzmaier die Lage bereits unmittelbar nach dem historischen Wochenende Anfang September 2015 ein: Das mediale Bild von Österreich als humanitärem Musterland, in dem Tausende Helferinnen und Helfer Zigtausende Flüchtlinge unterstützen, könne sich als „verfrüht“ erweisen, warnte Hofer, der den persönlichen Einsatz der Helfer zugleich nicht kleinreden wollte. Denn die Hilfsbereitschaft bedeute nicht, dass sich die Stimmung im Land generell gedreht habe. Filzmaier betonte damals, dass man schon in den Monaten davor genauso hätte helfen können und es im nächsten Jahr auch tun könnte.

Und tatsächlich änderte sich die generelle Stimmung im Land dann relativ rasch: Als immer mehr Staaten Zäune errichteten und Grenzkontrollen einführten, diskutierte Österreich über eine Obergrenze für Flüchtlinge.

In Österreich kam es zu innenpolitischen Turbulenzen und Machtwechseln – zunächst innerhalb der SPÖ (Christian Kern statt Faymann), dann in der ÖVP (Kurz statt Reinhold Mitterlehner) mit dann rasch folgenden vorzeitigen Nationalratswahlen Anfang Juli 2017 und der Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung unter Kurz.

Die Europäische Union war aufgrund der Zerrissenheit der Mitgliedsstaaten faktisch handlungsunfähig. An vielen Binnengrenzen zwischen EU-Staaten gibt es seither wieder Grenzkontrollen. Eine der großen Errungenschaften der EU, die Reisefreiheit und „Aufhebung“ der Grenzen, ist seither beeinträchtigt.

Erst im Vorjahr wurde nach jahrelangem Streit ein Asyl- und Migrationspakt beschlossen, der zumindest einen Teil der politischen Probleme rund um Flucht, Asyl und Migration angehen soll. Der Pakt soll damit das Thema Schutz vor Verfolgung (Asyl) – in der politischen Debatte oft so bewusst wie irreführend mit Zuwanderung vermischt – vom Thema Migration wieder klar abgrenzen. Mit der praktischen Umsetzung des Pakts ist EU-Migrationskommissar Magnus Brunner beauftragt – bei zentralen Punkten gibt es bisher keine Lösungen.

Bis zum Ausbruch der CoV-Pandemie und ihren gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwerfungen blieb die Flucht- und Migrationsbewegung aus Nahost und Afrika das zentrale, tonangebende Thema in Österreich und Europa – und ist nur aufgrund der Kriege in der Ukraine und in Nahost sowie vor allem der angespannten wirtschaftlichen Lage etwas in den Hintergrund getreten.

ORF.at

+ Show More Articles